Contaminación & Congestión

“Geh mal in die Fremde”,

“Erweiter deinen Horizont”,

“Vieles ist neu, ein Kulturschock ist völlig normal“.


Gerade die letzte Aussage, der angesprochene Kulturschock blieb mir im Gedächtnis. Ja gut, erstes Mal Lateinamerika, aber Auslandserfahrengen gepaart mit Sprachkenntnissen und toleranter Lebensart werden mich schon schützen, dachte ich. „Schock“ ist subjektiv keine Frage, aber auch „Kultur“ lässt sich auf vielfältige Weise definieren und beschränkt sich keineswegs auf Tradition, Kunst, Sport, Musik, Sprache und Lebenseinstellung. Auch der stinkende und lärmende Bereich „Verkehr“ steht unter direktem kulturellen Einfluss („Rechts vor Links?“ „Nein, danke“) und bietet schon mehr Potential zum Schock.

Trotz harter Schule (Kreiselverkehr in Rom, heilige Kühe auf indischen Strassen und Rechts vor Links trotz Linksverkehr in Süd Afrika) läuft mein Gesäss auf Grundeis auf, als der Busfahrer, alle unzähligen Schlaglöcher ignorierend, kurzerhand den LKW trotz heransausenden Gegenverkehrs überholt und somit die neue Fahrbahn zwischen linker Aussenseite und rechter Aussenseite des Mittelstreifens markiert. Wie so oft, hupt das Opfer, ein entgegenkommender Motofahrer verärgert, entscheidet sich dann flink fürs Überleben bzw. gegen das Abbremsen und streift um Haaresbreite das verirrte Huhn nahe des Strassenrands. Als passiver Zuschauer im komfortablen Beifahrersitz, bleibt mir oft nur das Augenschliessen, Luftanhalten und abrupte Verkrampfen. Gleichzeitig vermittelt so ein Bus ein gewisses Gefühl der Unzerstörbarkeit: Wie ein Flaggschiff bahnen wir uns morgens wie abends den Weg durch das Meer an Verkehrsteilnehmern und mit der Kombination von vorausschauenden (oder „vorausahnenden“) Fahren und Dreistigkeit kamen wir bisher immer ans Ziel. Tatsächlich flachte der doch unerwartete Kulturschock über die Wochen ab und ich entspannte mich zunehmend mit Blick durch die gewaltige Frontscheibe.
RUMS – tausend Scherben. Der Ast eines Jungbaums am Strassenrand zertrümmert im Bruchteil einer Sekunde unseren gewaltigen rechten Aussenspiegel. Der Fahrer hält an und sammelt die Überbleibsel ein, der Fahrstil wird kaum verändert: Das Abbiegen nach rechts wird nun durch ein Warnsignal ergänzt. Das Hupen auf kolumbianischen Strassen erfreut sich sowieso grosser Beliebtheit und ersetzt Schulterblicke bzw. ergänzt die nicht ausreichende visuelle Absicherung. Eine gute Freundin (Kolumbianerin, welche in Deutschland studiert hat) erzählte mir auch davon, dass der Verkehr in Kolumbien sicherer sei: Während hier jeder bei Unstimmigkeiten und aus Vorsicht – also durchaus als präventive Prävention zu verstehen – hupt, sei es auf deutschen Strassen unheimlich, da sehr still. Eine kulturelle Eigenschaft, die sich nicht nur in der Spalte “Verkehr” sondern auch in “Menschliche Kommunikation” wiederfinden lässt.

Eine Pauschalisierung ist dennoch nicht zweckförderlich und auch liegen zwischen dem Verkehr in DownTown Cali und dem im schnuckligen Dörfchen daneben, La Sirena, sicherlich Welten. Und trotzdem, “la gente está loca” und die Zeitungen voll mit Verkehrsunfällen. Neben der Ignoranz gegenüber Geschwindigkeitsbegrenzungen, Reisverschlussverfahren und Stopschildern, erlaubt die Stadt von sich aus die freie Fahrt bei Rotlicht ab Mitternacht bis 5Uhr morgens. Dies liess mich anfangs kräftig schlucken, da jeder Deutsche bei einer vergleichbaren Situation erstmal mit seinem Gewissen das Gespräch suchen würde. Von der Infrakstruktur hat es Cali ebenso wie die Hauptstadt verpasst, im rechten Moment eine Unterbahn bzw. Strassenbahnsystem zu etablieren. Ein Versäumnis, welches ihr und den Bürgern nun teuer zu stehen kommt: Das öffentliche Bussystem (eigene, abgetrennte Fahrbahnen) verkehrt pünktlich und zügig, kann jedoch in der Rush Hour dem Andrang nicht gerecht werden – beklemmende und stickige Stehfahrten sind das lästige Resultat und der sehnsüchtige Blick nach Norden gen Medellín mit Metro und Seilbahn durchaus berechtigt.

Die Ampel springt auf Grün und wir setzen uns für einige Meter in Bewegung. Auf der Quinta herrscht imenses Verkehrsaufkommen und wie jedes Mal zwischen 06:00 und 09:00 blinken die Ampeln Orange während Transito-Agenten versuchen der Lage Herr zu werden. Für den Neuankömmling erscheint die Situation chaotisch: Die Strassen zum Teil vor Hitze aufgeplatzt bzw. von Baumwurzeln angehoben, viel Glas hier und da und dann noch allerhand Leben auf der Fahrbahn: Spielende Strassenkinder, kriechende Obdachlose, Zeitungsverkäufer, entgegenkommende Müllsammler (privat) sowie unbeirrbare Strassenreiniger (beauftragt). Dazu ein Menge an Fuss- und Drahteselvolk, welchen den KÜRZESTEN Weg von A nach B suchen. Hervorgehoben seien an dieser Stelle auch die Strassenkünstler, welche wie in anderen grossen Städten den Wartenden die Rotphase versüssen: Das Spektakel reicht von Zauberei, Clownerie, Akrobatik, Jonglage, Balance bis hin zum Feuerspucker bzw. zur Tänzerin. Für kurze Zeit bespielen diese Künstler auf teilweise grandiose Art und Weise ihre kleine Bühne auf dem Asphalt, um dann in den letzten Sekunden vor der Ampelschaltung kleine Spenden einzusammeln, zumeist mit Erfolg. Neben diesen Annehmlichkeiten auf dem Weg gilt es nun fairerweise auch die absolute Plage beim Namen zu nennen: las motos! Rücksichtslos und doch geschickt bahnen sie sich wie ein Schwarm Heuschrecken ihren Weg durch die Autokolonne bis in die erste Reihe und oft darüber hinaus. Bremsen, beschleunigen, bremsen, hupen – von der Anzahl den Vierrädern bei weitem überlegen und trotzdem meist unvernünftig (ohne Helm, Licht, Nierengurt, etc.) rasant unterwegs, stellen die motorisierten Zweiräder eine grosse Bedrohung für PKW, LKW, Busse, Radfahrer aber auch insbesondere für den Passanten dar: Denn Grün zu haben, bedeutet noch lange nicht, ungehindert die Strasssen nutzen zu können.
Nach den Fussgängern folgen die Radfahrer in der Hierachie der Verkehrsteilnehmer. Ob diese sich in der Pyaramide unter oder gar neben der Krafträdern befinden, hängt eng davon ab, ob sie die Cicloruta (Fahrradsstrasse) nutzen oder nicht. Da ich seit gut einem Monat selber nahezu täglich zum Drahtesel greife, kann ich hierbei nun aus Erfahrungen sprechen: Defensive Fahrweise, Nutzung von Lichtern, Helm und Reflektoren erscheint für uns selbstverständlich – hier ist dem nicht so. Noch schlimmer: Einige Radfahrer meiden gar die Radwege, um einige Sekunden Zeitvorsprung zu haben – in der Kombination führt dies in den Abendstunde zu Ereignissen wie diesem: Die Dämmerung hüllt die Quinta ein und mit Obacht bewege ich mich über den Radweg nach Hause. Bei einer roten Ampel warte ich beobachte die Kreuzung: Ein verirrter Radfahrer kreuzt eben diese – ohne Helm, ohne Licht, ohne Vorfahrt. Ein Kleinwagen zischt um die Kurve und gabelt die dunkle Gestalt trotz Vollbremsung wie in einem Stierkampf auf. Der Mann landet auf, das Rad unter dem Wagen. Es vergehen schrecklich lange Sekunden der schlimmsten Befürchtungen, doch endlich regt sich der Geschädigte  und humpelt samt Schrottrad zum nächsten Bürgersteig. Die Ampel schaltet auf grün und der Tatort gerät unter der Räder der Massen.

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